Vielfältige Charakterentwicklung bei 5e

Ein oftmals vorgebrachtes Vorurteil gegenüber 5e ist, dass mit diesem Regelsystem vermeintlich nur flache, eindimensional auf ihre Klasse reduzierte Charaktere möglich wären, die über ein klischeehaftes Abbilden von Eigenschaften kaum hinauskämen.

Ich möchte mit diesem Artikel zeigen, wie man bei 5e Charaktere erschaffen und weiterentwickeln kann, die in sowohl in der regelseitigen Entwicklung aber auch in der Darstellung durchaus komplex ausfallen und nicht einer bereits vorgezeichneten Entwicklung folgen müssen.

Zur Veranschaulichung erstelle ich einen Beispiel-Charakter mit dem Namen Ghorvarosch. Ghorvarosch soll ein Leonir sein, weshalb ich dieses Volk wähle.

Bevor ich mir Gedanken um etwaige Regeln mache, überlege ich, wie ich Ghorvarosch umsetzen möchte. Für einen Leonir war er schon immer eher schmächtig, vermochte es aber mit Gewitztheit und Gewandtheit brenzlige Situationen mit gut gesetzten Worten zu lösen oder sich notfalls in Sicherheit zu bringen.
Aufgrund dieser ersten Überlegung achte ich bei der Festlegung der Attributswerte auf hohes Charisma und Geschicklichkeit. Da er trotz allem aber immer noch ein Leonir ist, lasse ich die Attribute Stärke und Konstitution nicht zu gering ausfallen. Da Ghorvarosch jedoch noch nie sonderlich Wert auf Bildung oder tiefere Gedankengänge gelegt hat, weise ich den Attributen Intelligenz und Weisheit niedrige Werte zu.

Er entstammt der Kultur der Khorrash, der Savanen-Leonir. Diese Kultur folgt dem kämpferischen Gott Khorr, züchtet die gewaltigen Blutbüffel und wertet persönliche Stärke über alles.
Passend zu der Beschreibung der Kultur wähle ich einen eher ländlichen oder barbarischen Hintergrund, um damit zum Beispiel auch die Fertigkeitsübungen in Überlebenskunst und Mit Tieren umgehen zu erhalten. Im neuen 5e2024 und auch im neuen Myranor erhalte ich hier auch noch ein besonderes Talent (Spezialfähigkeit).

Da Ghorvarosch ein nichtmagischer Charakter sein soll, bieten sich als Klassen Barbar, Kämpfer, Schurke und Kundschafter (eine neue nichtmagische Waldläufervariante aus dem Myranor-Regelwerk) an. Ich entscheide mich für den Kämpfer, weil wir im Gruppengespräch festgestellt haben, dass für diesen noch am meisten Bedarf in der Gruppe besteht. Da sich Ghorvarosch im einem Kampf eher auf seine Beweglichkeit als auf seine Kraft verlässt, entscheide ich mich ihn mit zwei Säbeln, einem Kurzbogen und einem passenden Kampfstil auszustatten, wodurch er von der hohen Geschicklichkeit profitiert. Im kommenden 5e2024, auf dem Myranor 5e basieren wird, würde ich noch die Waffenmeisterschaften dieser Waffen dazunehmen, um damit zusätzliche Effekte im Kampf zu ermöglichen.
Des Weiteren kann ich auch noch zwei Fertigkeitsübungen wählen. Da ich Mit Tieren umgehen und Überleben, die in der Liste (unter anderem) auch vorkommen, schon gewählt habe, und ich Ghorvaroschs Charisma und Gewitztheit oft erfolgreich nutzen möchte, entscheide ich mich für Überzeugen und Einschüchterung.

Myranor 5e wird an diesem Punkt dann noch zusätzlich weitere Optionen zu Fertigkeitsspezialisierungen, Stärken und Schwächen (bspw. ein hohe Neugier oder ein hinkendes Bein) bieten.

Damit ist Ghorvarosch erstellt und bereit, ins Abenteuer zu ziehen.

Mit Erreichen der Stufe 2, üblicherweise bereits nach den ersten ein bis zwei Spielsitzungen, ist der Zugewinn an Fähigkeiten und Mächtigkeit noch sehr überschaubar, da diese ersten Spielsitzungen eher dem Erlernen der Regeln dienen sollen und Neulingen genügend Freiraum bieten sollen, sich mit ihren Charakteren vertraut zu machen.
Auf Stufe 3 kann ich mich dann aber für eine Subklasse entscheiden und hier wird es wirklich interessant, da mit der getroffenen Wahl bereits sehr früh ein starker Einfluss auf die Fähigkeiten und Besonderheiten der Klasse ausgeübt und diese stark variiert wird. Neue Subklassen finden sich in praktisch allen 5e-Büchern und da Myranor 5e kompatibel sein wird, bin ich nicht nur auf die Auswahl aus dem Myranor 5e-Regelwerk beschränkt, obwohl diese selbstverständlich für einen Start in Myranor völlig ausreichend sein wird.

Bei der Wahl der Subklasse kann ich mich natürlich auch vom bisherigen Kampagnenverlauf leiten lassen.
Ghorvarosch, charismatisch wie er ist, hat recht bald zu Beginn der Kampagne ein Angebot einer Gladiatorenschule erhalten und beschlossen, sich etwas Geld dazu zu verdienen und dabei die Aufmerksamkeit der Menge zu genießen. Ich wähle also die (neue) Subklasse Schaukämpfer, die mir neben einigen schmutzigen Tricks auch Möglichkeiten gibt, zu begeistern und abzulenken.
Auf Stufe 4 (und wieder auf höheren Stufen, beim Kämpfer konkret 6, 8, 12, 14, 16 und 19) habe ich die freie Wahl aus einer großen Liste von Talenten (Spezialfähigkeiten). Diese Talente unterstützen zum Teil bereits vorhandene Fähigkeiten, es gibt aber auch solche, die einem Charakter gänzlich andere Möglichkeiten bieten. Die Auswahl ist hier sehr groß und bei weitem nicht alle haben mit Kampf zu tun. Dazwischen gibt es einige feste neue Fähigkeiten, die zum Teil von der Klasse und zum Teil von der Subklasse abhängig sind. Manche davon bieten in sich wiederum Auswahlmöglichkeiten.

Für Spieler:innen, die mit den Regeln bereits besser vertraut sind, kann es sich auch anbieten, von der Progression einer einzelnen Klasse abzuweichen und mit demselben Charakter stattdessen eine neue zu beginnen. Diese Vorgehensweise nennt sich Multiclassing und ermöglicht interessante Kombinationen, die perfekt geeignet sind, tiefgreifende Veränderungen des Charakters abzubilden, oder auch Charakterkonzepte, die selbst mit der Subklassenauswahl nicht mit einer einzelnen Klasse abbildbar sind.

Mit Erreichen der Stufe 6 hat Ghorvarosch schon einiges erlebt und ist dabei auch in Kontakt mit anderen Religionen gekommen, die ihn mehr ansprechen als der martialische Khorr-Kult seiner Heimat. Nachdem er erlebt hat, wie eine hjaldingsche Priesterin der Gyldara für ihre Gemeinschaft eingestanden ist, egal wie schwach Einzelne darin waren, fand er seinen Weg zu dieser Religion. Auf der 6. Stufe wählt er dazu ein passendes Talent, das seinen neuen Weg abbildet. Bis zur 7. Stufe hat ihn sein Weg bis zur Weihe geführt. Also entscheide ich mich, anstatt einer 7. Stufe als Kämpfer die erste Stufe als Kleriker der Gyldara zu gehen und damit auch die Fähigkeit zum Wirken der Liturgien dieser Göttin von Gemeinschaft und Familie zu erlangen. Nach einigen weiteren Abenteuern, inzwischen ist der Leonir ein Kämpfer der Stufe 8 und ein Kleriker (Gyldara) der Stufe 3, kehrt er voller Tatendrang in seine Heimat zurück, um zu seine Sippe zu missionieren. Den örtlichen Mächtigen und Priester:innen gefällt das aber gar nicht und Ghorvarosch muss bald in den Untergrund gehen. Um das darzustellen (und nach einigen Notwendigkeiten, den Kopf unten zu behalten) steigert er als nächstes ein bis zwei Stufen als Schurke.


Eine weitere Option, den eigenen Charakter detailreicher zu gestalten ist das „Reskinning“. Unter diesen Begriff fällt das Verändern der Beschreibungen von Wirkungen einzelner Fähigkeiten, ohne die eigentlichen Regeln zu verändern.
Für viele Charakterfähigkeiten lassen sich schöne alternative Beschreibungen finden, die das Gesamtbild des Charakters unterstützen.
Die meisten Spieler:innen verbinden mit dem Kampfrausch des Barbaren zum Beispiel instinktiv die blutgierige Raserei eines Berserkers. Stattdessen ist aber genauso gut möglich, den regeltechnischen Kampfrausch als unerschütterliche Überzeugung eines fanatischen Gläubigen oder als traumwandlerischen, eleganten Kampftanz in tiefer Konzentration zu beschreiben und damit ein gänzlich anderes Charakterkonzept mit der selben Regelbasis abzubilden. Vor allem wenn man dieses Bild dann noch durch eine passende Subklasse unterstützt.
Ebenso könnte der Zauber Licht eines Klerikers ein helles, warmes Licht erzeugen, wohingegen ein Optimat einen bläulich zuckenden, geometrischen Körper erschafft.

Wie man sieht, ist der „Weg“ eines Charakters in 5e vielleicht nicht ganz so frei wie in einem völligen Baukastensystem, aber doch deutlich flexibler, als oft angenommen wird.